Presse Archiv : Brand 1, 11. 2010
Trauermarsch und Russendisko
Trikont ist das älteste unabhängige Plattenlabel Deutschlands. Eine Firma von Liebhabern exotischer Musik. Die, ganz nebenbei, wertvolle Tondokumente für uns alle retten.
... In der Kistlerstraße 1 residiert die Trikont Unsere Stimme Verlags GmbH, Deutschlands ältestes Independent-Label. Bergmann, 63, alleiniger Gesellschafter, ist ein großer, stämmiger Mann, der ebenso kenntnisreich wie ausdauernd durch die Enzyklopädie der modernen Musik mäandern kann. Mair-Holmes, die zusammen mit ihm die Geschäfte führt, blond, forsch, vital, kommt schneller und meist fröhlich auf den Punkt ... Mehr als 400 CDs hat Trikont in fast 40 Jahren produziert, die, wie der Katalog des Hauses versichert, 'die Geschichten aus der heimischen und weltweiten Populärmusik erzählen ... und uns mehr zeigen als eine grell bemalte Oberfläche' ... Trikont ist das Gegenmodell zur kommerziellen Musikindustrie. Sie hetzen nicht von Hit zu Hit, von Star zu Star, von Trend zu Trend. Ihre Produkte sind nicht MTV-kompatibel oder taugen für den glatten Einheitssoundmix der Radiosender. Keine Melodien für Millionen, wie auch?
... 'Sie verschaffen Stimmen Gehör', sagt Kalle Laar, 'die im Mainstream sonst untergehen würden.' Laar ist Musiker, Tonkünstler, DJ. Ein Multitalent mit Hang zu extravaganten Klang- experimenten. Auf der Biennale in Venedig war er einmal mit einer Telefonleitung zu einem Gletscher vertreten. Für Trikont hat Laar sechs CDs mit Versionen von 'La Paloma' zusammen- gestellt, 141 Versionen des 'Opus Magnum maroder Matrosen und Matronen', wie es das Wiener Magazin »Falter« nannte.
Mair-Holmes sagt: 'Als Kalle die erste CD vorschlug, sagte ich: ‚Nur über meine Leiche‘.' Doch dann erkannten sie, dass die Taube im Sturmwind die Welt verbindet. Im Banat in Rumänien wird das Lied bei Beerdigungen unverheirateter Männer gespielt. Auf Sansibar als Abschiedslied bei Hochzeiten. In Mexiko dient es als Ruf zu den Waffen. In Jamaika ist es eine Dub-Nummer. Alle berühmten Tenöre außer Caruso haben 'La Paloma' interpretiert, mindestens sieben Länder reklamieren die Urheberschaft für die Komposition. Laar: 'Da kommen selbst ‚Stille Nacht‘ und ‚Yesterday‘ nicht mehr mit.'
Trikonts 'La Paloma'-Serie wurde ein sensationeller Erfolg, und Laar gilt seither als weltweit führender Experte zum Thema. Dennoch, sagt er, sei er viel stolzer auf die Zusammenarbeit für Trikont mit dem Jazzgitarristen Coco Schumann, einem Holo- caust-Überlebenden, der in Musik- kapellen in den Konzentrationslagern Auschwitz und Theresienstadt spielte.
Schumann ist 86. Was wäre von diesem Künstler und Zeitzeugen ohne Laar und Trikont für die Nachwelt erhalten geblieben?
Wohl kaum die Aufnahme eines Auftritts im Berliner 'Rex Casino' von 1955, die Laar auf einem zuvor dutzendfach überspielten Tonband entdeckte. Es sei doch 'ein Wahnsinn', sagt der, wie nachlässig die moderne Konsumgesell- schaft mit Klangdokumenten umgehe. Jeder Kaffeelöffel, jeder Modefummel, jeder platte Werbespot werde katalogisiert, archiviert und museal aufbereitet. Seine 15 000 Platten, die auch politische, wissenschaftliche oder esoterische Aufnahmen umfassen, nennt er 'Das temporäre Klangmuseum', das er mit Performances als DJ ständig 'in den öffentlichen Raum zurückbringt'.
Die Welt ist voller Klänge. Nur wer verschafft der Öffentlichkeit den Zugang dazu? Der Sammler sammelt egoistisch. Die Industrie konserviert wenig außer klassischer Musik. Museen oder ambitionierte, alle Genres umfassende Sammlungen gibt es nicht. Dieses Vakuum ist Trikonts Chance. Dass sie sie überhaupt nutzen können, liegt vor allem an einem über Jahrzehnte entstande- nen Netzwerk von Musikliebhabern und -experten, immer auf der Suche nach verlorenen Preziosen. Publizisten wie Jon Savage haben für Trikont CDs zusammengestellt, DJs wie John Peel, Journalisten, die weltweit in den Archiven von Musikverlagen stöbern. Exzentriker wie der Österreicher Radio-DJ Fritz Ostermayer, zu dessen zahlreichen Schrullen das Dokumentieren von Todesmärschen gehört. Die BBC hat die Leute, die für Trikont arbeiten, einmal 'Männer und Frauen mit goldenen Ohren' genannt.
Text: Gerhard Waldherr Foto: Daniel Mayer